Siebtes Kapitel

»Warum hast du mich von ihr weggezogen?« fragte der sonst immer heitere Mr. Masters ärgerlich. »Alle Achtung, sie hat Brummells Charakter sehr gut erkannt. Aber bevor wir überhaupt ins Gespräch kamen, hast du dich schon verabschiedet.«

»Dann geh meinetwegen zu ihr zurück«, erwiderte Lord Harrington. »Ich gebe zu, dass ich ein wenig unhöflich war. Aber plötzlich hatte ich das Gefühl, ich könnte meine Zeit einfach nicht mehr damit vertun, immer wieder einer neuen Schönheit den Hof zu machen.«

Mr. Masters sah seinen Freund verwundert an. »Das finde ich aber höchst merkwürdig, dass du plötzlich so heftig reagierst. Im allgemeinen machst du dir doch gar nicht viel aus solchen Schönheiten. Ich gehe jetzt zurück. Mir genügt es schon, wenn ich sie nur ansehen darf.«

Lord Harrington sah ihm nach und wandte sich dann ab, um sich mit ein paar anderen Freunden zu unterhalten. Er sprach über dies und jenes und verfluchte sich gleichzeitig wegen seines rüden Benehmens. Fiona Sinclair beschäftigte ihn sehr.

Die glänzende Gesellschaft veränderte und bewegte sich in einem fort, und ganz plötzlich war Fiona nicht mehr da. Einen Augenblick zuvor hatte sie noch in der Mitte des Salons gestanden, umgeben von einer Gruppe von Bewunderern, und im nächsten Augenblick war sie verschwunden. Sie war wahrscheinlich in den Vorraum hinuntergegangen, der den Damen vorbehalten war, damit sie ihr Haar feststecken oder ihre Kleidung richten konnten.

Es kam ihm in den Sinn, dass er sie vielleicht antreffen würde, wenn er in die Halle hinunterginge. Er würde dann kurz unter vier Augen mit ihr reden, um seinen Fehler von vorhin wieder gutzumachen. Dass er vor allem deshalb von ihr weggegangen war, weil er es unerträglich fand, ihre Gesellschaft mit Toby zu teilen, wollte er sich nicht eingestehen.

Immer noch trafen Gäste ein. Während er sich die Treppe hinabdrängte, erkannte er Fiona an ihrem schwarzen Lockenkopf, wie sie gerade auf die Straße hinaustrat.

Was hatte das Mädchen bloß vor, dass sie ohne ihren Vater oder .einen Diener wegging? Es war allgemein bekannt, dass der Geizhals von Mayfair keine Kutsche hielt.

Rasch zwängte er sich durch die Leute, die sich immer noch nach oben schoben, gelangte zum Ausgang und trat hinaus. Da sah er gerade noch ihre schlanke Gestalt um die Ecke der Green Street biegen und in der Park Lane verschwinden.

Joseph hatte zunächst gegen den ganzen Plan lauthals protestiert. Doch als er jetzt die Zeit auf der von Mr. Rainbird entliehenen Uhr überprüfte, spürte er eine heftige Erregung; Sein Kostüm spielte dabei eine wesentliche Rolle.

Er war in einen langen schwarzen Mantel gekleidet, dessen Kapuze sein maskiertes Gesicht verbarg. jeder, der ihn sah, musste ihn für einen jungen Mann auf dem Weg zu einem Maskenball halten.

Folgendes war geplant: Fiona würde sich Punkt neun aus der Gesellschaft wegstehlen und in die Park Lane begeben. Dort sollte Joseph sich auf sie stürzen und so tun, als ob er auf sie einschlüge. Wenn sie dann zum Schein Schreie ausstieß und in Ohnmacht fiel, käme Rainbird angerannt, um sie zu »retten«. Er würde sie dann in »bewusstlosem« Zustand auf seinen Armen zu den Bascombes tragen und dafür sorgen, dass Lord Harrington von dem »brutalen« Überfall erführe. Inzwischen sollte Joseph in den Hyde Park fliehen, wo sich Dave und MacGregor bereithalten würden, um mögliche Verfolger in die falsche Richtung zu locken.

Man erwartete, dass sich in Lord Harringtons kühler Brust Gefühle entwickeln würden, wie sie fahrenden Rittern zu eigen sind. Fiona hatte den Plan für sehr dürftig gehalten, meinte aber schließlich, er könne als eine Art Probe dienen, bis Rainbird etwas Besseres einfalle.

Der erste Fehler, von dem Joseph freilich nichts wußte, unterlief Rainbird. Er vergaß nämlich, dass die Taschenuhr, die er Joseph geliehen hatte, als einzige in Nummer 67 richtig ging. So war es schon zehn Minuten über die Zeit, als er sich, gefolgt von MacGregor und Dave, auf den Weg machte.

Inzwischen hatte Fiona mit Befriedigung festgestellt, dass die Park Lane genauso ruhig war, wie sie das um diese Zeit vorausgesetzt hatten, wenn die wohlhabenden Leute und ihre Diener zu Hause waren. Sie lächelte, als Joseph aus dem Schatten einer großen Platane trat.

»Halt, schönes Fräulein!« schrie er. »Her mit Ihrem Schmuck, oder es kostet Sie das Leben!« Er zog MacGregors bestes Tranchiermesser aus den Falten seines Mantels und hielt es in die Höhe, so dass das flackernde Licht der Straßenlaterne auf seine gefährliche Schneide fiel.

»Du sollst mich betäuben«, sagte Fiona, »nicht erstechen!«

Plötzlich sah Joseph eine männliche Gestalt auf sich zu laufen und ließ mit einem Angstschrei das Messer fallen. Er versuchte zu fliehen, aber der lange Mantel wickelte sich um seine Beine, und er fiel der Länge nach hin.

Lord Harrington wollte, sich auf ihn stürzen. Er hatte kaum seinen Augen zu trauen gewagt, als er eine große maskierte Gestalt vor Fiona ein Messer schwingen sah.

Aber noch ehe der Lord den zu Boden gestürzten Angreifer erreichen konnte, hatte Fiona sich, dem Earl entgegengeworfen und ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Er bemühte sich vergeblich, seine Arme aus ihrem festen Griff freizubekommen. »Lassen Sie mich los, Miß Sinclair«, keuchte er. »Ich muss den Mann fangen.«

Fiona bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sich Joseph aufrappelte. Gleichzeitig nahm sie flüchtig wahr, dass Rainbird, MacGregor und Dave auf der anderen Seite am Rand des Parks entlangeilten.

»Mein Held!« sagte Fiona und verstärkte erbarmungslos ihren Griff. Der Earl blickte zu ihr hinunter. In seinen Augen blitzte es argwöhnisch auf. Fiona zog seinen Kopf zu sich herab und küsste den Lord innig auf den Mund.

In diesem Augenblick vergaß der Earl of Harrington sämtliche Angreifer, Messer, Abendgesellschaften und auch alles andere, was es sonst noch in der großen weiten Welt gab. Der warme, weiche Druck von Fionas Mund versetzte ihn in einen wahren Taumel. Ihr Busen drängte sich an seine Brust, ihre Schenkel pressten sich gegen die seinen. Sie roch nach Seife und Rosenwasser.

Er erwiderte ihren Kuss mit blinder, heftig fordernder Leidenschaft.

Als sie schließlich sanft ihren Mund von dem seinen löste und sich umdrehte, musste er entdecken, dass der Angreifer spurlos verschwunden war. Hatte er, Harrington, das Ganze nur geträumt? Die Park Lane lag verlassen da. Ein Windhauch bewegte die Blätter der Platanen. Er blickte unverwandt auf Fiona hinab. Sie lag noch in seinen Armen, hielt aber die Augen gesenkt, und er fühlte ihren Körper zittern.

»Sie müssen mir mein Benehmen vergeben, Mylord«, sagte Fiona mit heiserer Stimme. »Meine Nerven waren überreizt.«

Er schob sie sanft von sich. »Wir wollen so tun, als ob nichts geschehen wäre«, sagte er. »Aber berichten Sie mir von dem Überfall. Es wirkte wie ein Stück auf einer Bühne. Einen Augenblick glaubte ich, ich sähe eine billige Farce.«

»Nein«, erwiderte Fiona und schauderte überzeugend. »Es war wirklich echt. Der Mann sagte, er werde mich töten.«

»Am besten ist es, wenn wir schnell zu den Bascombes zurückkehren und die Diener nach dem Burschen suchen lassen, wenn ich auch nicht glaube, dass das jetzt noch viel Sinn hat.«

»Ich möchte nicht zurück«, bat Fiona mit leiser Stimme. »Ich will lieber nach Hause.«

»Und Ihr Vater?«

»Kümmern Sie sich nicht um meinen Vater«, sagte Fiona mit müder Stimme. »Wenn Sie mich nicht nach Hause begleiten wollen -«

»Aber natürlich! Ich fühle mich geehrt. Meine Kutsche ist -«

»Ich würde lieber zu Fuß gehen.«

»Aber gern«, erwiderte er und betrachtete sie neugierig. »Ich nehme an, Sie wollen unter keinen Umständen zu den Bascombes zurückkehren, nicht einmal, damit ich Hut und Handschuhe holen kann.«

»Nein.«

»Aber Sie haben weder Schal noch Umhang bei sich.«

»Die Nacht ist sehr warm.«

Er schob ihren Arm unter seinen und ging mit ihr die Park Lane entlang. Zuweilen betrachtete er sie von der Seite. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Ein schrecklicher Verdacht blitzte in ihm auf. Denn es sah beinahe so aus, als hätte sie sich ihm entgegengeworfen, um ihn daran zu hindern, den Verbrecher gefangenzunehmen.

»Wer hat Ihnen diesen Fächer geschenkt?« fragte er. Eigentlich hatte er sie gar nicht danach fragen wollen. Aber es war ihm so über die Lippen gekommen.

»Ich habe ihn gekauft, Mylord.«

»Ah, dann habe ich keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Ich war überzeugt, Sie hätten ihn von einem Verehrer.«

»Er war sehr teuer«, erläuterte Fiona. »Ich glaube nicht, dass ich ein so wertvolles Geschenk von irgend jemand annehmen würde.«

»Sie haben sicher schon viele Zeichen der Verehrung bekommen.«

Fiona lächelte, erwiderte aber nichts.

»Aber Sie müssen an derlei gewöhnt sein«, fuhr er fort. »Jeder ist doch von Ihrer Schönheit überwältigt.«

»Seltsam, für schön gehalten zu werden«, meinte Fiona halb zu sich selbst, »wenn man geglaubt hat, man sei hässlich. jeden Morgen blicke ich in den Spiegel und erwarte, ein anderes Gesicht, eine andere Frau zu sehen, aber immer bin ich es. Immer dieselbe.«

»Wo sind Sie auf diese verrückte Idee gekommen, dass Sie hässlich seien? Im Waisenhaus?«

»Ja.« Fiona lächelte. »Aber wir sollten nicht darüber sprechen, sondern bei etwas Banalem bleiben. Es wurde mir gesagt, dass Sie das bevorzugen.«

»Man hat Sie falsch unterrichtet.«

»Was suchen Sie dann bei einer Frau?«

Durch ihre Frage wurde er lebhaft an den sanften Druck und den Geschmack ihrer Lippen erinnert. Was konnte sich ein Mann mehr wünschen?

Wie still die Straßen waren! Nur eine Kutsche, die von einem Paar Brauner gezogen wurde, kam die Park Lane entlanggerollt. Aus einem der Häuser drang das leise Klimpern eines Walzers. Die Luft war warm.

Er konnte sie nicht noch einmal küssen, es Sei denn, er machte ihr zuvor einen Heiratsantrag, und das konnte er nicht. Sein Name gehörte ihm nicht allein, sondern einer langen Reihe von Harringtons. Er durfte ihn nicht leichtfertig durch eine zügellose Leidenschaft für dieses seltsame Mädchen beflecken, das bestimmt viele dunkle Punkte in seiner Vergangenheit hatte.

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Mylord.«

Ihre Stimme mit dem entzückenden schottischen Tonfall klang leise und neckisch, doch zugleich ein wenig heiser und brüchig. Er spürte den Druck ihres weichen Armes durch den Baumwollstoff seines Ärmels. An der Ecke von Piccadilly und Park Lane traten sie wieder in den Schein einer Straßenlaterne. Er blieb stehen und drehte sie zu sich, so dass sie ihn ansah. Still blickte er auf sie nieder.

Ihre Lippen waren jetzt noch voller und ihre Augen sehr groß und dunkel. Er wollte sie noch einmal küssen, nur, um sich zu beweisen, dass ihn vorhin nicht seine Sinne getrogen hatten.

Sie kam vertrauensvoll in seine Arme, als ob sie dorthin gehöre. Sein markantes Gesicht schwebte über ihr und verdeckte das Licht. Dieses Mal war es schlimmer - oder auch besser.

Jetzt verstand er, was die Dichter meinten. jetzt wußte er, was es hieß, sich restlos zu verlieren. Er küsste sie wie wild und stöhnte vor Leidenschaft. Er küsste sie, dass sie sich ganz betäubt fühlte und außer Atem geriet. Er küsste sie, bis er glaubte, er werde an der Unstillbarkeit seines Verlangens zugrunde gehen. »Fiona«, sagte er rauh, »es darf nicht sein. Ich darf deinen Ruf nicht ruinieren, und er wäre sicherlich vernichtet, wenn man uns so sähe. Lass mich dich nach Hause bringen!«

Sie gingen schweigend weiter. Er fühlte förmlich, wie sie sich von ihm zurückzog und sich hinter jener Fassade ruhiger Gelassenheit verbarg, die sie gewöhnlich der Welt gegenüber zeigte.

 »Ich - ich hätte das nicht tun sollen«, stammelte er und fühlte, dass er die Situation dadurch nur noch verschlimmerte. Obgleich er nie zuvor solch eine glühende Leidenschaft empfunden hatte, war ihm doch bekannt, dass jede Leidenschaft von Natur aus dazu neigte, früher oder später zu erlöschen.

»Sie hätten das nicht sagen dürfen«, erwiderte Fiona streng. »Sie haben keinen Anstand.«

»Entschuldigung«, sagte er steif. »Ich wurde von den Umständen überwältigt.«

»Es wird immer schlimmer«, spottete Fiona. »Mylord, gehen Sie doch zu einer der Kurtisanen wie Harriet Wilson! Kaufen Sie sich bei ihr Liebe ohne Verantwortung! Vielleicht ist das alles, wozu Sie fähig sind.«

»Gnädiges Fräulein, ich gebe zu, dass ich mich schlecht benommen habe«, erwiderte er wütend. »Aber deshalb brauchen Sie mich nicht gleich zu verhöhnen.«

»Vielleicht sollte man Sie öfter verhöhnen, Mylord. Sie gleichen dann wenigstens einem Mann aus Fleisch und Blut.«

»Gott, wäre ich Ihnen doch nie begegnet, Sie Hexe!«

 »Sie brauchen mich nicht widerzusehen«, erklärte Fiona mit aufreizender Gelassenheit. »Gehen Sie nur und suchen Sie sich eine Dame mit einem langen Stammbaum, einer langen Nase und einer Seele, die genauso schwunglos wie die Ihre ist!«

»Danke«, rief er. »Das werde ich.«

»Sie können meinetwegen sofort gehen«, sagte Fiona. »Oh, welcher Zufall! Mr. Rainbird.«

Der höchst aufgeregte Butler hatte Joseph mit Dave und dem wütenden MacGregor, der den Verlust seines besten Messers beklagte, nach Hause geschickt. Er selbst war unauffällig dem Paar gefolgt, wobei er sich immer im Schatten der Bäume hielt. Beim Einbiegen in die Piccadilly Street hatte er ihre lauten Stimmen gehört und war zu der Ansicht gekommen, dass es Zeit sei, sich einzuschalten.

»Ich werde Sie also verlassen, Miß Sinclair«, sagte Lord Harrington, »und zu den Bascombes zurückkehren.«

»Aber natürlich«, meinte Fiona ironisch. »Was gibt es Wichtigeres im Leben, als seinen Hut und Stock wiederzubekommen? Erzählen Sie meinem Vater, dass ich von der Hitze bewusstlos geworden bin, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mylord! Sagen Sie ihm aber nicht, dass ich schon wieder überfallen worden bin. Sein Herz ist sehr schwach.«

»So schwach wie das seiner Tochter«, fauchte der Earl, was ihm einen wütenden Blick von Rainbird einbrachte. Der Lord machte auf dem Absatz kehrt und ging.

»Gnädiges Fräulein«, begann Rainbird, »es tut mir ja so leid. Ich bin zu spät gekommen. Joseph sagte mir, dass Lord Harring toll ihn beinahe gepackt hätte. Er war halb wahnsinnig vor Angst und wollte sich nicht beruhigen, bis ihm MacGregor drohte, ihn in den See im Park zu werfen.«

»Sie haben es richtig gemacht, Mr. Rainbird«, sagte Fiona traurig. »Ich habe alles verdorben. Wie ein liederliches Frauenzimmer habe ich mich benommen und Lord Harrington Abscheu gegen mich eingeflößt.«

»Miß Sinclair«, entgegnete Rainbird, wobei er sie nicht ansah, »ich habe Sie und Seine Lordschaft schon vor einer Welle beobachtet und kann nur sagen, Seine Lordschaft sah bestimmt nicht wie ein Mann aus, der von Abscheu erfüllt ist.«

»Ach, Mr. Rainbird«, seufzte Fiona. »Nein, gehen Sie nicht hinter mir. Ich muss jetzt einfach reden. Ich muss mit jemand sprechen, sonst werde ich noch verrückt. Daher rede ich mit Ihnen, Mr. Rainbird. Aber alles, was ich sage, müssen Sie vergessen, und Sie dürfen es nie erwähnen.«

»Ja, gnädiges Fräulein«, erwiderte Rainbird und sah sie neugierig an.

»Ich bin nicht die Tochter von Mr. Sinclair. Ich war das Mündel seines Bruders Jamie Sinclair. Dieser Bruder war eine Art frommer Wüstling. Er holte mich aus dem Waisenhaus und brachte mir bei, wie sich eine Dame benimmt. Zwar ließ er sich nichts zuschulden kommen, aber ich spürte, dass er kaum die Hände von mir lassen konnte, schon als ich erst dreizehn war. Ich wußte, er wollte mich zur Frau haben. Ich dagegen war entschlossen, bei ihm gerade so lange zu bleiben, wie ich es ertragen konnte. Die Angst vor der Armut half mir durchzuhalten, die Angst, wieder ohne Namen zu sein, Furcht vor Kälte und Hunger. Sie kennen das, Mr. Rainbird.«

»0 ja, gnädiges Fräulein«, sagte Rainbird traurig, »ich kenne das.«

»Als Mr. Jamie Sinclair starb und ich in die Obhut seines Bruders kam, hatte ich nichts dagegen. Mr. Roderick Sinclair ist freundlich, er hat nur kein Geld. Ein Geizhals ist er aber nicht Das haben wir uns nur so ausgedacht, um unsere schäbige Aufmachung zu erklären und damit ich unter so viel Freiern wie möglich wählen kann ... Auf dem Weg in den Süden zwang uns ein Sturm, die Gastfreundschaft in einem Haus in Anspruch zu nehmen, wo auch Lord Harrington wegen des Unwetters festsaß. Er war der erste Mann, der mir sagte, dass ich eine Schönheit sei und dem ich das wirklich abnahm. Mr. Jamie hatte mir so oft erzählt, ich sei hässlich, dass ich überzeugt war, er habe recht. Aber Lord Harrington traf seine Feststellung in einem so kühlen, unbeteiligten Ton, dass ich ihm schließlich Glauben schenkte. Dazu trug übrigens auch bei, dass seine Augen stets auf meinem Gesicht ruhten und nicht mit gierigen Blicken zu meinem Körper abirrten, wie das bei anderen Männern meist der Fall ist. Ich fing Feuer, traute aber meinem Gefühl noch nicht restlos ... Ich ahnte, dass unser Gastgeber während der Nacht über mich herfallen wollte. Den Mut dazu schöpfte er wohl aus dem Umstand, dass er mich gesellschaftlich weit unter sich einstufte. Da gab es ja für ihn keine unangenehmen Konsequenzen. Vorsichtshalber habe ich deshalb mit Mr. Sinclair das Zimmer getauscht. Es macht mir stets Spass, den Leuten vorzugaukeln, wie dumm und zerstreut ich bin. So hat mir auch Mr. Sinclair geglaubt, als ich vorgab, die Farbe meines Schlafzimmers gefalle mir nicht ... Ich konnte hören, was nebenan vor sich ging. Tatsächlich kam Mr. Pardon nach einiger Zeit herein und warf sich, im Glauben, dass ich darin sei, auf Mr. Sinclairs Bett ... Im Gegensatz zu Mr. Pardon mit seinen gierigen Händen, seinen geilen Blicken und seinem heißen Atem erschien mir Lord Harrington wie ein Engel. Ich verklärte ihn in meiner Vorstellung so sehr, dass ich schließlich ,überzeugt war, ein so feiner und vornehmer Mann werde mir meine ärmliche Herkunft nicht zum Vorwurf machen, wenn er mich nur wahrhaft liebte ... Aber er ist wie alle anderen«, fuhr Fiona fort und schlug sich an die Brust. »Eine Andeutung über das Waisenhaus sollte ihn, wie ich hoffte, dazu veranlassen, alles über mich in Erfahrung zu bringen. Ich träumte davon, dass er dann zu mir kommen und sagen werde, es mache ihm nichts aus... Aber, Mr. Rainbird, ich bin ja so jung und dumm ...«

Ein heftiges Schluchzen schüttelte sie. Rainbird griff mit beiden Armen nach ihr, drehte sie zu sich herum und hielt sie ganz fest, wobei er sie leise wiegte und sagte: »Still, Miß Fiona. Bitte weinen Sie nicht! Ich werde mich um Sie kümmern.«

Der arme Rainbird war erschüttert. Aus der kühlen und schönen Miß Sinclair war ein schluchzendes, verlorenes Kind geworden. Sein Herz schmolz vor Mitleid.

Fiona schluckte noch ein paarmal und trocknete sich dann die Tränen. »Ich wäre lieber ein Dienstbote geworden und arbeitete für Sie, Mr. Rainbird«, sagte sie.

»Nein, gnädiges Fräulein«, erwiderte Rainbird ernst, »das wäre nicht das Richtige. Sie lieben Lord Harrington, und ich bin überzeugt, dass er Sie auch liebt. Wer täte das nicht?«

»Dieser stolze Lord hat mich gedemütigt«, sagte Fiona mit halb erstickter Stimme. »Mich so zu küssen und kein Wort von Liebe zu sagen. Das werde ich ihm nie verzeihen. Nie!«

»Wenn ich Ihnen nur helfen könnte«, sagte Rainbird kläglich.

»Ach, Mr. Rainbird, mein Anfall ist schon vorüber«, sagte Fiona leichthin. »Setzen wir unsere Masken wieder auf! Wir sind zu Hause.«

»Ja, gnädiges Fräulein. Und ich werde zu keiner Menschenseele darüber sprechen. Möchten Sie, dass wir uns auch weiterhin etwas für Sie ausdenken?«

»Nein, Mr. Rainbird. Ich werde den ersten anständigen Mann, der um meine Hand anhält, heiraten.«

»Warten Sie damit noch ein bisschen. Die Saison hat erst begonnen.« Er stieg langsam zur Gesindestube hinunter und befahl Jenny, Miß Fiona heiße Milch mit Ale hinaufzubringen, da das gnädige Fräulein Kopfweh habe.

»Hoffentlich ist sie nicht wütend auf uns, weil wir zu spät gekommen sind«, erkundigte sich MacGregor ängstlich.

»Nein«, erwiderte Rainbird. »Sie ist mit uns allen sehr zufrieden.«

»Mr. Rainbird, Sie sehen aus, als ob Sie jeden Augenblick losheulen wollen«, bemerkte Lizzie.

Rainbird zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, Lizzie. Ich habe ebenfalls Kopfweh. Es muss die Hitze sein.« In Wirklichkeit war es Rainbird weh ums Herz. Er fühlte sich wie der Vater einer großen, aber armen Familie. Es waren so viele, die man lieben und für die man sorgen musste. Und nun war Miß Fiona auch noch dazugekommen. »Wenn Miß Fiona Lord Harrington haben möchte«, erklärte er laut, wobei er mit der Faust auf den Tisch schlug, »dann, zum Donnerwetter, soll sie ihn auch bekommen, und wenn ich Seine Lordschaft an Händen und Füßen gefesselt vor sie schleppen müsste.«